Die umfangreiche Internetpräsenz liefert interessante Einblicke in die Geschichte der Stiftung und Impressionen über den Beginn der großen Flüchtlingsströme. Wie kann eine zahnmedizinische Versorgung von Tausenden von Flüchtlingen aufgebaut werden in einem Land, das selbst drei Millionen Einwohner ohne Krankenversicherung hat? - Ja, es gibt hoffnungsvolle humanitäre Inseln im Meer der Migration. Hilfe kann gelingen, wenn es zupackende Menschen gibt, die das Helfen- Wollen fernab von politischen Vorgaben erfolgreich und pragmatisch kanalisieren. In der Foundation werden Zahnärzte aus der ganzen Welt kontaktiert und über ein umfangreiches Zulassungsverfahren vorbereitet.
Die Zulassungsbeschränkungen der griechischen Regierung, auch gegenüber europäischen Zahnärzten, sind streng, und so bekam ich erst in den letzten Tagen vor der Abreise die definitive Zusage. Da waren schon längst die Koffer gepackt. Delo, Künstler aus Syrien, der mehrere Sprachen spricht und als Übersetzer mitkommt, Bash aus dem Kosovo, der gerade sein Studium abgeschlossen hat und mir assistieren will, sowie Mohammad, syrischer Informatiker aus Damaskus, reisen mit. Diese Zusammensetzung des Teams erweist sich als wahrer Segen: Übersetzer sind stets mit im Boot und stellen so die Brücke zu den Bewohnern des Lagers, die uns in ihren Schilderungen eindrucksvolle Bilder aus ihrem tristen Alltag und von ihren unmittelbaren Sorgen und Ängsten geben können.
Die großen Aluminiumkoffer waren gepackt nach der Materialliste, die kurz zuvor noch verschickt worden war - voll mit Einmalartikeln, chirurgischem Spezialinstrumentarium und Verbrauchsmaterial. Material, Unterkunft, Verpflegung und Flugkosten wurden privat finanziert oder gespendet, der freiwillige Arbeitseinsatz erfolgte kostenlos. In Mytilini wurde gemeinsam das alte und gemütliche Stammhaus einer griechischen Familie bezogen, und am Sonntagabend sammelten sich schnell die Whatsapp-Nachrichten für das erste Briefing zum Einsatzort im Camp.
Camp Moria, der größte Hotspot in der Ägäis, war früher ein Militärgefängnis. An diese Zeit erinnern immer noch die 4 - 6 Meter hohen Zaunanlagen mit einer Krone aus Natodraht, der militärisch gesicherte Eingang und die Riege an zivilem und polizeilichen Bewachungspersonal am Eingang. Als Hotspot dient das Lager in der westlichen Ägäis, 10-15 km von der türkischen Küste entfernt, der Erstregistrierung und Verfahrensverwahrung der Flüchtlinge, die aus der Türkei den Weg über das Mittelmeer suchen, zurzeit immer noch ca. 200 Personen in der Woche.
15.000 Flüchtlinge werden gegenwärtig auf den Inseln der Ägäis aufgehalten, die Weiterreise auf das Festland wird nur in den seltenen Fällen der Asylanerkennung oder aus medizinischen Gründen gestattet. Nur knapp 1.700 wurden über das Rückführungsabkommen in der Zeit zwischen März 2016, dem „EU-Türkei-Deal", und 2018 in die unsichere Türkei zurückgeschickt. Für die meisten ist Lesbos zur grausamen Falle mit quälend ungewissem Ausgang geworden.
Hier, mitten im Lager, soll ich die nächsten 2 Wochen mit meinen Freunden und dem Team der Stiftung die zahnärztliche Versorgung für 8.500 Menschen stellen. Am Morgen des ersten Einsatztages werden zunächst sorgfältig unsere Personalien überprüft. Schnell fi ndet man uns im Checkpoint auf der Liste des Einsatzpersonals der Health Point Foundation. Ohne diese Registrierung ist es nicht möglich, ins Camp zu gelangen. Fotografieren ist ebenfalls verboten. Dient dieses Verbot, so fragen wir uns, nur dem nachvollziehbaren Schutz der Bewohner, oder soll die Weltöffentlichkeit durch das Fotografierverbot sowie strenge Besuchsverbote für Journalisten nichts erfahren über die Zustände im Lager, einem der vielen Schandflecke an den grausamen Grenzen Europas? Bald werden wir vom Bodenteam der Zahnstation an der Eingangsschleuse abgeholt und durch schier endlose Zelt- und Containerreihen zu unserer Zahnstation geführt.
Um einen wiederum hermetisch abgesicherten Bereich mit Eingangsschleuse gruppieren sich verschiedene Container weiterer NGO: Einmal im Monat kommen für eine Woche Augenärzte. Ein bereits auf ganz Lesbos bekanntes niederländisch-griechisches Musikprojekt („connectbymusic") probt dort in seinem 15 qm großen Iso-Container, ein weiterer Container der niederländischen „Bootvluchteling“, der „Boat Refugee Foundation", beherbergt ein winzig kleines Klassenzimmer, in dem Sprachunterricht erteilt wird .
Jedoch, sagte uns einer der Lagerbewohner, würde es den Flüchtlingen schwerfallen, Unterrichtsangebote anzunehmen. Man sorge sich um die Habseligkeiten im Zelt, auch entferne man sich ungern von der Familie, die Sicherheitslage und auch der enorme psychische Stress seien oft zu belastend, um sich auf den Unterricht konzentrieren zu können. Die European Lawyers of Lesbos, einer gemeinnützigen, ursprünglich vom deutschen Anwaltverein gegründeten Organisation, gehören ebenso zu unseren Nachbarn, es gibt oft interessante Gespräche von Container zu Container.
Es gibt zurzeit ca 8.500 Flüchtlinge in Moria, die meisten von ihnen stammen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, immer mehr Menschen aus Afrika kommen dazu. Viele der Schutzsuchenden sind von den Ereignissen in der Heimat und der Flucht extrem traumatisiert, verletzt oder krank. Eine adäquate psychosoziale Betreuung findet quasi nicht statt, die medizinische Betreuung beschränkt sich oft auf die Weitergabe von Schmerzmitteln. Die Flüchtlinge haben eine begrenzte Vorstellung von ihren gesetzlichen Rechten sowie dem komplexen und sich stetig ändernden Asylsystem. Die Befragung zu ihrem Asylgesuch findet oft statt, ohne dass sie jemals einen Anwalt gesehen haben, und ohne, dass sie wissen, was die Kriterien eines erfolgreichen Asylgesuchs sind und auch ohne über die Möglichkeiten der Familienzusammenführungen Bescheid zu wissen.
An diesem ersten Montag warten bei unserer Ankunft bereits 30 - 40 Flüchtlinge auf Einlass. Sie bekommen dort Nummernzettel und reihen sich ein in die Schlange der Wartenden. Noch in der Wartezone erfolgt die Triage: Die sehr erfahrene portugiesische Stationsleiterin und Bash sortieren akute Schmerzfälle von weniger dringlichen aus, die oft nur mit einer Packung Schmerzmittel auf einen neuen Tag vertröstet werden können, während ich im Container bereits mit der Behandlung beginne. Der Container beinhaltet einen Materialbereich, zwei Nischen mit den mobilen Behandlungseinheiten (von denen jedoch nur eine funktionstüchtig ist – für den Dauerbetrieb sind sie eben nichtgeeignet) und einen Sterilisationsbereich. Auf klapprigen Massageliegen wird der Patient gelagert, eine Behandlung ist fast nur im Stehen möglich.
Trotz der Belastungen durch ungewohnte Arbeitsbedingungen war die Stimmung im internationalen Team der Koordinatoren, der Übersetzer und der zahnmedizinischen Mitarbeiter konzentriert und aufgeräumt: Die Unterstützer kommen in diesen beiden Wochen aus Saudi-Arabien, Portugal, Irland, Afghanistan, Syrien, dem Kosovo und eben Deutschland. Die englische Sprache eint uns alle, alle packen mit an, und oft lassen wir abends den Tag gemeinsam ausklingen.
Teil 2 des Erfahrungsberichtes von Dr. Heike Heinen folgt in ca. einem Monat